(Stutt­gart) In drei Ver­fah­ren hat sich das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt erneut mit den Vor­aus­set­zun­gen befasst, die an die Fest­stel­lung der Erwerbs­fä­hig­keit und Erwerbs­mög­lich­kei­ten eines Unter­halts­pflich­ti­gen zu stel­len sind. 

 
Dar­auf ver­weist der Nürn­ber­ger Fach­an­walt für Fami­li­en­recht Mar­tin Weis­pfen­ning, Vize­prä­si­dent und Geschäfts­füh­rer „Fami­li­en­recht” der Deut­schen Anwalts‑, Notar- und Steu­er­be­ra­ter­ver­ei­ni­gung für Erb- und Fami­li­en­recht e. V. mit Sitz in Stutt­gart, unter Hin­weis auf die Mit­tei­lung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (BVerfG) vom 6.07.2012 zu sei­nen Beschlüs­sen vom 18.06.2012, Az.: 1 BvR 774/10, 1 BvR 1530/11 und 1 BvR 2867/11.

Reicht das Ein­kom­men eines Unter­halts­pflich­ti­gen unter Wah­rung sei­nes Selbst­be­halts nicht aus, um sei­ne Unter­halts­pflicht gegen­über einem min­der­jäh­ri­gen Kind in vol­lem Umfang zu erfül­len, kön­nen ihm grund­sätz­lich fik­tiv die Ein­künf­te zuge­rech­net wer­den, die er erzie­len könn­te, wenn er eine ihm mög­li­che und zumut­ba­re Erwerbs­tä­tig­keit aus­üben würde. 

Der Beschwer­de­füh­rer im Ver­fah­ren 1 BvR 774/10 stammt aus Gha­na und ist der deut­schen Spra­che nur begrenzt mäch­tig. Als Küchen­hil­fe bezieht er einen Net­to­ver­dienst von rund 1.027 € monat­lich. Das Amts­ge­richt ver­ur­teil­te ihn, an sei­nen min­der­jäh­ri­gen Sohn den Min­dest­un­ter­halt von damals 199 € im Monat zu zah­len. Es sei davon aus­zu­ge­hen, dass er als unge­lern­te Arbeits­kraft bei ent­spre­chen­den Bemü­hun­gen eine Erwerbs­tä­tig­keit fin­den kön­ne, die mit einem Brut­to­stun­den­lohn von 10 € ver­gü­tet wer­de, sodass er von dem sich erge­ben­den Net­to­ein­kom­men unter Berück­sich­ti­gung des Selbst­be­halts in Höhe von 900 € den Min­dest­un­ter­halt in Höhe von 176 € decken kön­ne. Den Fehl­be­trag von 23 € müs­se er mit einer Neben­tä­tig­keit erwirtschaften. 

Der 1953 gebo­re­ne Beschwer­de­füh­rer im Ver­fah­ren 1 BvR 1530/11, gelern­ter Bau­ma­schi­nist und Beton­fach­ar­bei­ter, ist kör­per­lich behin­dert und lebt von Sozi­al­leis­tun­gen. Das Amts­ge­richt ver­ur­teil­te ihn zur Zah­lung des Min­dest­un­ter­halts in Höhe von damals 285 € im Monat, wobei es unter­stell­te, dass der Beschwer­de­füh­rer bei über­re­gio­na­len Bemü­hun­gen eine Arbeit, bei­spiels­wei­se als Nacht­por­tier oder Pfört­ner, fin­den kön­ne, durch die er ein berei­nig­tes Net­to­ein­kom­men von 1.235 € monat­lich erzie­len könne. 

Der kör­per­lich behin­der­te Beschwer­de­füh­rer im Ver­fah­ren 1 BvR 2867/11 lebt eben­falls von Sozi­al­leis­tun­gen. Er wur­de vom Amts­ge­richt zur Zah­lung eines Unter­halts von 225 € monat­lich ver­pflich­tet. Sei­ne kör­per­li­chen Ein­schrän­kun­gen ent­bän­den ihn nicht davon, alles ihm Mög­li­che zur Siche­rung des Unter­halts sei­nes min­der­jäh­ri­gen Kin­des zu unter­neh­men. Da er kei­ne Anga­ben zu sei­nen Bemü­hun­gen um eine Arbeit gemacht habe, sei fik­tiv von sei­ner Fähig­keit zur Zah­lung des Min­dest­un­ter­halts auszugehen. 

Die von den Beschwer­de­füh­rern jeweils ein­ge­leg­ten Rechts­mit­tel hat­ten vor den Ober­lan­des­ge­rich­ten kei­nen Erfolg. Die 2. Kam­mer des Ers­ten Senats hat die ange­grif­fe­nen Ent­schei­dun­gen auf­ge­ho­ben, weil sie die Beschwer­de­füh­rer in ihrem Grund­recht auf wirt­schaft­li­che Hand­lungs­frei­heit aus Art. 2 Abs. 1 GG ver­let­zen, und die Sachen jeweils an das zustän­di­ge Ober­lan­des­ge­richt zur Ent­schei­dung zurückverwiesen. 

  • Den Beschlüs­sen lie­gen im Wesent­li­chen fol­gen­de Erwä­gun­gen zugrunde: 

Eltern haben gegen­über ihren min­der­jäh­ri­gen Kin­dern eine gestei­ger­te Erwerbs­ob­lie­gen­heit. Es ist daher ver­fas­sungs­recht­lich nicht zu bean­stan­den, dass nicht nur die tat­säch­li­chen, son­dern auch fik­tiv erziel­ba­re Ein­künf­te berück­sich­tigt wer­den, wenn der Unter­halts­ver­pflich­te­te eine ihm mög­li­che und zumut­ba­re Erwerbs­tä­tig­keit unter­lässt, obwohl er die­se „bei gutem Wil­len” aus­üben könn­te. Gleich­wohl bleibt Grund­vor­aus­set­zung eines jeden Unter­halts­an­spruchs die Leis­tungs­fä­hig­keit des Unter­halts­ver­pflich­te­ten. Auch im Rah­men der gegen­über min­der­jäh­ri­gen Kin­dern gestei­ger­ten Erwerbs­ob­lie­gen­heit haben die Gerich­te dem Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­grund­satz Rech­nung zu tra­gen und im Ein­zel­fall zu prü­fen, ob der Unter­halts­pflich­ti­ge in der Lage ist, den bean­spruch­ten Unter­halt zu zah­len. Wird die Gren­ze des Zumut­ba­ren eines Unter­halts­an­spruchs über­schrit­ten, ist die Beschrän­kung der finan­zi­el­len Dis­po­si­ti­ons­frei­heit des Ver­pflich­te­ten als Fol­ge der Unter­halts­an­sprü­che des Bedürf­ti­gen nicht mehr Bestand­teil der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung und kann vor dem Grund­recht der wirt­schaft­li­chen Hand­lungs­frei­heit aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen. 

Die Zurech­nung fik­ti­ver Ein­künf­te zur Begrün­dung der Leis­tungs­fä­hig­keit setzt zwei­er­lei vor­aus: Zum einen muss fest­ste­hen, dass sub­jek­tiv Erwerbs­be­mü­hun­gen des Unter­halts­schuld­ners feh­len. Zum ande­ren müs­sen die zur Erfül­lung der Unter­halts­pflich­ten erfor­der­li­chen Ein­künf­te für den Ver­pflich­te­ten objek­tiv erziel­bar sein, was von sei­nen per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen wie bei­spiels­wei­se Alter, beruf­li­cher Qua­li­fi­ka­ti­on, Erwerbs­bio­gra­phie und Gesund­heits­zu­stand und dem Vor­han­den­sein ent­spre­chen­der Arbeits­stel­len abhängt. 

Die­sen Maß­stä­ben wer­den die ange­grif­fe­nen Ent­schei­dun­gen nicht gerecht, weil sie kei­ne trag­fä­hi­ge Begrün­dung für die Annah­me ent­hal­ten, der Beschwer­de­füh­rer könn­te bei einem Arbeits­platz­wech­sel bzw. bei aus­rei­chen­den, ihm zumut­ba­ren Bemü­hun­gen um einen Arbeits­platz ein Ein­kom­men in der zur Zah­lung des titu­lier­ten Unter­halts erfor­der­li­chen Höhe erzielen. 

1. Im Ver­fah­ren 1 BvR 774/10 hat das Ober­lan­des­ge­richt ohne nähe­re Begrün­dung und ohne sei­ne eige­ne Sach­kun­de näher dar­zu­le­gen fest­ge­stellt, einem unge­lern­ten Mann sei es mög­lich, einen Brut­to­stun­den­lohn von 10 € zu erzie­len. Dass es sich dabei an den per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen und Mög­lich­kei­ten des Beschwer­de­füh­rers und an den tat­säch­li­chen Gege­ben­hei­ten am Arbeits­markt ori­en­tiert hat, ist der ange­grif­fe­nen Ent­schei­dung nicht zu ent­neh­men. Das Ober­lan­des­ge­richt hat sich ins­be­son­de­re nicht mit dem der­zeit für eine unge­lern­te Kraft erziel­ba­ren Lohn bzw. den aktu­el­len Min­dest­löh­nen der ver­schie­de­nen Bran­chen auseinandergesetzt. 

Soweit sich der Beschwer­de­füh­rer zusätz­lich gegen die Anrech­nung fik­ti­ver Ein­künf­te aus einer gering­fü­gi­gen Neben­tä­tig­keit wen­det, ist sei­ne Ver­fas­sungs­be­schwer­de dage­gen unzu­läs­sig, weil er eine Ver­let­zung sei­ner wirt­schaft­li­chen Hand­lungs­frei­heit nicht dar­ge­tan hat. Eine Oblie­gen­heit zur Erzie­lung von Neben­ein­künf­ten, die dem Unter­halts­pflich­ti­gen bei der Unter­halts­be­rech­nung fik­tiv zuge­rech­net wer­den kön­nen, ist nur dann anzu­neh­men, wenn und soweit ihm die Auf­nah­me einer wei­te­ren Erwerbs­tä­tig­keit unter Berück­sich­ti­gung der Umstän­de des Ein­zel­falls zumut­bar ist und ihn nicht unver­hält­nis­mä­ßig belas­tet. Danach ist zu prü­fen, ob und in wel­chem Umfang es ihm unter Abwä­gung sei­ner beson­de­ren Lebens- und Arbeits­si­tua­ti­on sowie sei­ner gesund­heit­li­chen Belas­tung mit der Bedarfs­la­ge des Unter­halts­be­rech­tig­ten zuge­mu­tet wer­den kann, eine Neben­tä­tig­keit aus­zu­üben, und ob der Arbeits­markt ent­spre­chen­de Neben­tä­tig­kei­ten für den Betref­fen­den bie­tet. Die Dar­le­gungs- und Beweis­last liegt inso­weit beim Unter­halts­ver­pflich­te­ten. Der Beschwer­de­füh­rer hat nicht dar­ge­tan, dass und aus wel­chen Grün­den ihm die Auf­nah­me einer Neben­tä­tig­keit nicht mög­lich bzw. nicht zumut­bar ist. 

2. In den Ver­fah­ren 1 BvR 1530/11 und 1 BvR 2867/11 haben die Gerich­te zwar zutref­fend fest­ge­stellt, dass die Beschwer­de­füh­rer sich nicht aus­rei­chend um eine Erwerbs­tä­tig­keit bemüht haben. Sie haben jedoch eben­falls kei­ne Fest­stel­lung dazu getrof­fen, auf wel­cher Grund­la­ge sie zu der Auf­fas­sung gelangt sind, dass die Beschwer­de­füh­rer bei Ein­satz ihrer vol­len Arbeits­kraft und bei Auf­nah­me einer ihren per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen ent­spre­chen­den Arbeit objek­tiv in der Lage wären, ein Ein­kom­men in der zur Leis­tung des titu­lier­ten Unter­halts erfor­der­li­chen Höhe zu erzie­len. Zu die­ser Fest­stel­lung hät­te es einer kon­kre­ten Prü­fung unter Berück­sich­ti­gung der beruf­li­chen Aus­bil­dung der Beschwer­de­füh­rer, ihres Alters und ihrer krank­heits­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen sowie der tat­säch­li­chen Gege­ben­hei­ten auf dem Arbeits­markt bedurft. Ohne die­se kon­kre­te Prü­fung hät­ten die Gerich­te nicht auf die vol­le Leis­tungs­fä­hig­keit der Beschwer­de­füh­rer in Höhe des titu­lier­ten Kin­des­un­ter­halts schlie­ßen dürfen.

Weis­pfen­ning emp­fahl, dies zu beach­ten und in allen Zwei­fels­fäl­len Rechts­rat ein­zu­ho­len, wobei er u. a. auch auf die bun­des­weit mehr als 700 auf Erbrecht, Erb­schaft­steu­er­recht und Schei­dungs­recht spe­zia­li­sier­ten Rechts­an­wäl­te und Steu­er­be­ra­ter der DANSEF Deut­sche Anwalts‑, Notar- und Steu­er­be­ra­ter­ver­ei­ni­gung für Erb- und Fami­li­en­recht e. V., www.dansef.de ver­wies.
 

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